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Die Fanicherblüte

In unseren heimischen Wäldern wächst ein Farnkraut, das eine Höhe von zwei Fuß erreicht und vom Volke „Fonich" oder „Fanicher" wird. Diese Pflanze besitzt einen dreikantigen Stängel, der bis zur Mitte blattlos ist. Die Blätter selbst sind gefiedert. Es gibt einen weißen und einen schwarzen Fanicher. Der weiße blüht den ganzen Sommer hindurch. Der schwarze Fanicher ist etwas höher als der weiße. Sein Stängel ist am unteren Ende schwarz. Man sieht ich  nie blühen, weil er der Sage nach nur einmal im Jahr eine Stunde lang seine Blüten entfaltet. Die Angaben über seine Blütezeit stimmen nicht überein. Nach der einen Angabe soll er in der Thomasnacht von 11 bis 12 Uhr gelb blühen, während er nach der anderen Mitteilung in der Nacht vor dem Pfingstsonntag seine Blüten öffnen soll. Die Haupteigenschaft der Pflanze liegt nach der Meinung der einen in der Blüte, nach der anderen im Samen. Er soll noch in derselben Mitternachtsstunde reifen und abfallen. Eine rote Fanicherblüte macht den Besitzer unsichtbar. Mehr Wert besitzt der Samen des gelblich blühenden, er lässt seinen Träger alle Schätze der Erde sehen.

Welche Wirkung einer Fanicherblüte haben kann, das erfuhr ein junger Bursche aus Sierndorf, der tagsüber bei einem Schneider des Nachbarortes in Arbeit stand und nachts seinen Heimweg durch den Wald nehmen musste. Am Abend vor dem Pfingstsonntag hatte der Schneidermeister Postarbeit, und Hans, so hieß der Bursche, musste einige Stunden länger tätig sein als sonst, da er seinem Brotherrn die Kunden nicht vertreiben wollte. Als er sich endlich auf den Heimweg machte, rückte der Zeiger gegen die Mitternachststunde. Eilig verließ er das Dorf und schritt waldeinwärts. Kaum hatte er eine kurze Strecke des Waldweges zurückgelegt, schlug es auf der Turmuhr zwölf. In diesem Augenblick begann der rote Fanicher zu blühen, so dicht und feuerrot, dass Hans meinte, der Boden glühe unter seinen Füßen. Er kannte diese Blüte nicht und wusste auch nichts von ihr. Aus Furcht, sich zu verbrennen, lief er, so schnell ihn seine Füße trugen, durch den Wald, wobei es geschah, dass er eine Fanicherblüte abstreifte und sie ihm in den linken Stiefel fiel, ohne dass er es merkte. Keuchend kam er zu Hause an und fand Mutter und Schwester noch wach., Als er auf seine Mutter zutrat, um ihr den Grund seines langen Verweilens mitzuteilen, las sie unbeirrt in ihrem Gebetbuch weiter, weil sie ihren Sohn weder sah noch hörte. Die Fanicherblüte machte ihn unsichtbar. Der Schwester, die sich über das lange Fernbleiben des Bruders nicht genug wundern konnte, erging es wie der Mutter. Hans, der von seiner Unsichtbarkeit nichts wusste, konnte das Benehmen der beiden nicht verstehen. Unwillig warf er sich auf einen Sessel, sah durchs Fenster in die Frühlingsnacht hinaus und hing seinen Träumen nach. Und weil er keinen Schlaf verspürte, entkleidete er sich nicht, auch nicht an den folgenden Tagen. Indessen grämten sich über sein Fernbleiben Mutter und Schwester gar sehr, obwohl ihnen Hans immer wieder recht eindringlich versicherte, dass er bei ihnen sei und sie nur die Hand nach ihm auszustrecken brauchten, um seiner Anwesenheit sicher zu sein. Als er dann doch seine Stiefel ausziehen musste, weil sie zerrissen waren, fiel die Fanicherblüte zur Erde. Kaum hatte sie den Boden berührt, entstand ein entsetzlicher Krach, die Erde öffnete sich und aus dem glühenden Spalt stieg der Teufel heraus, der sich auf die Blüte stürzte und mit ihr verschwand, während neuerlich großes Getöse entstand.

Es war gerade Sonntag, wo alles in der Kirche weilte, auch die Mutter und die Schwester des Schneiderlehrlings. Als die beiden nach ihrer Heimkehr aus der Kirche in die Stube traten und den Vermissten frisch und wohlauf bei Tische sitzen sahen, trauten sie ihren Augen nicht, bis sie sich endlich überzeugt hatten, dass es doch der Hans war. Ihr Erstaunen war groß, als der Wiedergefundene erzählte, dass die Fanicherblüte die Ursache seiner Unsichtbarkeit gewesen wäre.